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Bruchmechanik

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Karl-Wilhelm Steinfieber

im weiteren Sinn die Gesamtheit der mechanischen Brucherscheinungen und ihrer physikalischen Grundlagen, die auf mikroskopische, makroskopische und skaleninvariante Effekte zurückzuführen sind, im engeren Sinn das Arbeitsgebiet, das sich mit dem Verhalten von rissbehafteten Festkörpern befasst. Hauptgegenstand ist die Ermittlung der Widerstandsfähigkeit der rissbehafteten Materialien gegen Spannungseinwirkung.

Mikroskopisch gesehen kommt es zur Bruchbildung, wenn die durch die äussere Belastung im Material hervorgerufene Spannungsenergie pro Fläche die Kohäsionsenergie eK pro Fläche (sog. Brucharbeit) übersteigt. Setzt man für erstere in grober Näherung das Hookesche Gesetz an, ergibt sich Bruchmechanik als Abschätzung der theoretischen maximalen Zugfestigkeit smax eines Materials (E ist der Elastizitätsmodul, d die maximale Längendeformation des Bindungsabstandes beim Reissen, die in der Grössenordnung der interatomaren Abstände liegt). Setzt man die Kohäsionsenergie eK gleich der Oberflächenenergie g des Festkörpers (eK = g), kann man für smax leicht Schätzwerte aus tabellierten Werten erhalten (für Glas z.B. ist smax » 1,3 × 104MPa). Der praktisch erreichte Wert, die sog. Zugfestigkeit sZ, liegt jedoch wesentlich niedriger (für Glas bei sZ = 0,3-1,7 × 102MPa). Eine bessere Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment ergibt sich, wenn man die folgenden zwei Effekte berücksichtigt:

1) Es kann im Bereich schon bestehender Risse zu Spannungskonzentrationen kommen (Abb. 1). Die Berechnung des Spannungsverlaufes bei gegebener Form eines Werkstückes einschliesslich Öffnungen und Rissen ist eine Aufgabe der Elastizitätstheorie, die nur für Spezialfälle bzw. in Näherung lösbar ist. Bei langgestreckter elliptischer Öffnung (Länge l, Krümmungsradius an der Spitze r, l >> r) in homogenem Material gilt

Bruchmechanik,  (1)

wobei sext die äussere Spannung (Belastung) ist und s die davon hervorgerufene innere Spannung im Material. Für andere Geometrien ergibt sich prinzipiell das Gleiche (i.a. mit einem Formfaktor ungleich 2). Man kann daraus allgemein folgern:

a) In der Nähe einer beliebig scharfen Rissspitze ergibt sich eine Bruchmechanik-Singularität für s. Überschreitet die lokale Spannung den Maximalwert smax, so kommt es zur Rissausbreitung. Dies zeigt sich experimentell z.B. bei sehr kleinen Proben aus Glas, bei denen asymptotisch sZ » smax gilt, da sie beim Abkühlen zunehmend freier von Spannungsrissen usw. entstehen.

b) Die Grösse Bruchmechanik lässt sich für allgemeine Geometrien definieren und wird als Spannungsintensitätsfaktor bezeichnet. Aus Zugversuchen gewinnt man für K einen kritischen Wert KC, der zu Rissausbreitung und Materialbruch führt. Er wird Bruchzähigkeit des Materials genannt.

c) Weiterhin ergibt sich aus Gleichung (1) die schon aus der Alltagserfahrung bekannte Tatsache, dass eine Rissausbreitung ein instabiler, selbstverstärkender Prozess ist, denn mit zunehmender Risslänge l vergrössert sich auch die Spannung s. Diese positive Rückkopplung erklärt auch die hohen Rissfortschrittgeschwindigkeiten von mehreren km/s, die in Festkörpern gemessen werden.

2) Die Bruchinstabilität ergibt sich auch aus einer Energiebetrachtung: Der Energieaufwand für die Bildung eines Risses ist proportional zur Anzahl der gerissenen Bindungen, also proportional zu l. Die freigesetzte Spannungsenergie ist das Produkt aus der elastischen Energiedichte Bruchmechanik und dem Volumen des Risses, wobei dieses proportional zu l2 ist, denn mit der Länge des Risses nimmt auch dessen Weite zu. Es existiert also eine kritische Länge, ab der die freiwerdende Energie weiteren Rissfortschritt bewirkt. Diese sog. Griffith-Länge ergibt sich zu Bruchmechanik. Sie ist konsistent mit der Maximallänge, die man aus (1) erhält, wenn man für s den oben abgeschätzten Maximalwert smax einsetzt und berücksichtigt, dass die kleinsten Werte für r von der Grössenordnung der inneratomaren Abstände und damit von d sind.

Diese Überlegungen erlauben auch eine mikroskopische Sicht auf die wichtigsten Bruchtypen: Bei spröden Brüchen liegt keine nennenswerte Verformung vor, eK beträgt bei typischen Beispielen (Glas, Keramik) wenige J/m2, und KC liegt typisch bei 1MPa/m2. Bei zähen Brüchen (z.B. bei Kunststoffen und Metallen) sind die Verformungen beträchtlich (10%-30% für gute Stähle), KC ist um mindestens eine, eK um mehrere Grössenordnungen grösser als bei spröden Brüchen. Hauptgrund für diese Unterschiede ist, dass bei Metallen die Bindung über das Elektronengas grössere Kristallbereiche erfasst. Bei der Rissausbreitung reissen nicht nur die einzelnen Bindungen, sondern es kommt zu schrittweisen Versetzungsbewegungen ganzer Domänen (Abb. 2, Versetzungen). Bei zähen Brüchen liegt also eine tief unter die Oberfläche reichende Umstrukturierung des Materials vor, daher ist auch eK >> g (anders als bei spröden Brüchen). Diese grössere Kohäsionenergie ist dann die zweite Modifikation für die obige Abschätzung von smax, und sie bewirkt im Gegensatz zu der ersten Modifikation, der Existenz von Spannungskonzentrationen, grössere Zugfestigkeiten.

Neben der spröden und zähen ist noch die korrosive Rissausbreitung zu nennen, wo durch thermische, chemische oder photochemische Einwirkung Bindungen aufgelöst werden. Darüber hinaus gibt es auch Mischformen der genannten Mechanismen, wie z.B. Rissausbreitung in einem durch äussere Einwirkungen versprödeten Material. Obige allgemeine und vereinfachte Überlegungen zur Bruchmechanik sollten keineswegs über die wahre Kompliziertheit des Themas hinwegtäuschen: Noch ganz andere Mechanismen der Rissausbreitung herrschen in Polymeren und vielen Biomaterialen, und auch das völlig unterschiedliche Bruchverhalten gegen Zug- und Druckbelastung ist zu berücksichtigen, das Verbundmaterialien wie Stahlbeton auszeichnet. Wiederum andere Mechanismen liegen der Materialermüdung zugrunde. Des weiteren blieb bei den obigen Überlegungen die ausgeprägte Richtungsabhängigkeit der Bruchvorgänge in den meisten Materialien unberücksichtigt.

Das makroskopische Bruchverhalten wird durch die Lastverteilung und die geometrischen und stofflichen Eigenschaften von natürlichen und technischen Objekten im Ganzen bestimmt (z.B. das Einschnüren bei zugbelasteten Bauteilen). Dies wird insbesondere in der Baustatik und im Maschinenbau untersucht, aber auch in der Bionik, wo man z.B. Erkenntnisse über lastadaptives Wachstum von Bäumen an bruchgefährdeten Stellen auf technische Probleme anwendet. Aus der Vielfalt der physikalischen Erscheinungen sei ein Beispiel genannt: Beim Umstürzen von gesprengten Kaminen brechen diese oft etwa bei einem Drittel ihrer Höhe. Grund hierfür ist, dass längs der Kaminachse eine konstante Winkelbeschleunigung, aber verschiedene Vertikalbeschleunigungen auftreten. Das resultierende Biegemoment hat als Funktion der Kaminhöhe ein Maximum, das für Kamine mit konstantem Querschnitt gerade bei einem Drittel der Höhe liegt.

Skaleninvariante Aspekte der Bruchmechanik wurden in jüngerer Zeit in der fraktalen Natur von Bruchkanten und -flächen entdeckt. So erweisen sich Bruchflächen verschiedener Legierungen als Fraktale der Dimension Df » 2,2. Praktische Anwendungen wie die Nutzung der Geometrie von Bruchflächen als visuelles Charakteristikum bruchmechanischer Kenngrössen werden untersucht. [AM2]

Bruchmechanik

Bruchmechanik 1: Spannungsfeld und Materialinhomogenitäten (hier für eine elliptische Öffnung). Die Pfeile geben die Zugrichtung an. An Rissen kommt es zur Verdichtung von mechanischen Spannungslinien, ähnlich wie es bei Spitzen zur Verdichtung von elektrischen Feldlinien kommt. Auch ähnliche Methoden zur Berechnung der Felder werden in beiden Fällen verwandt, nämlich aus der Potential- und Funktionentheorie.

Bruchmechanik

Bruchmechanik 2: Zähe Rissausbreitung durch Abgleitprozesse im Metall.

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